Der Ötztaler – Story über einen Mythos


Die Serpentinen Richtung Timmelsjoch / Skarwan Der Ernstl mit seinen Erinnerungen, zweiter Teil / Lorenzi Reger Verkehr bei der Einfahrt nach Kühtai / Lorenzi Der erste Sieger des "Ötztaler" - Franz Wegscheider / Wegscheider

Es war alles angerichtet für das große Fest, für das Jubiläum des 40. Ötztal Radmarathon. Das Fest zum wahr gewordenen Traum, zur Huldigung eines Mythos. 1982 von Heli Maier als Radwandertag, als Mix aus einer sportlichen Herausforderung mit besonderem Spaßfaktor ins Leben gerufen und heute, rund 40 Jahre später, aus dem Leben „eines richtigen Radfahrers“ nicht mehr wegzudenken.

Aber all jene, die bereit waren für das erste von zwei geplanten Riesenfestln im Rahmen des Marathons, wurden enttäuscht. Geplant war ja am 30. August 2020 das 40. Rennen des Radklassikers in den Alpen, 2021 wäre dann das 40-Jahr-Jubläum des Kultrennens auf dem Festprogramm gestanden.

Verwirrend? Keineswegs! Denn 1996 war man gleich zweimal gefahren – einmal von Sölden (25. August) via Kühtai-Brenner und Jaufen sowie Timmelsjoch zurück nach Sölden und dann von Steinach (1. September) via Brenner, Jaufen, Timmelsjoch, Kühtai, Axams und Mutters zurück nach Steinach. Daher die Diskrepanz.

Schnee von gestern sozusagen, auch wenn beim Anmeldeschluss (29. Feber 2020) für die 40. Konkurrenz noch 17000 Interessenten auf einen der 4000 Startplätze hofften. Doch dann kam Covid-19 und der Rest ist bekannt, plötzlich waren alle Pläne und auch Termin-Unebenheiten bereinigt, was bedeutet: 2021 findet eine einzige große 40er-Feier statt; Veranstaltungsjubiläum und das heuer abgesagte 40. Rennen.

Aber weil es so ganz ohne Ötztaler Radmarathon natürlich auch heuer nicht auszuhalten war, hatten sich die Organisatoren blitzschnell etwas einfallen lassen, frei nach dem Motto: Besondere Zeiten erfordern besondere Ideen. Das Ergebnis? Der Ötztaler Social Radmarathon. Über drei Tage – vom 28. bis 30. August 2020 – konnten da weltweit die Fans des Ötztal-Marathons ihre persönliche Lieblingsstrecken über 238 Kilometer (wo auch immer) radeln. Motto? Alles für den guten Zweck!

Doch zurück zum Mythos Ötztaler Radmarathon – der Spruch, wonach er aus dem Leben „eines richtigen Radfahrers“ (O-Ton des Rennleiters 2017 zu Matthias Nothegger) nicht mehr wegzudenken sei, war für Nothegger die Initialzündung zu einer spektakulären „Jetzt-erst-recht“-Reaktion, die in einem Doppelsieg 2018 und 2019 (mit neuem Streckenrekord 6:47:2,3 Stunden) gipfelte.

Nur eine von unglaublich vielen verrückten Geschichten, die sich in den Jahrzehnten angesammelt haben und immer wieder für beste Unterhaltung sorgen. Nachzulesen u. a. im von Ernst Lorenzi großartig aufbereiteten zweiten Buch zum Ötztaler – „Ein neuer Traum beginnt!“

Zugegeben, für viele bleibt die Teilnahme ohnehin nur ein Traum – denn das Feld ist, organisatorisch und sicherheitsbedingt, auf 4000 Starter begrenzt. Aber Jahr für Jahr hoffen zwischen 16 und 20000 auf das „große Los“ und darauf, dass Fortuna es gut meint und sie ein Ticket ergattern für die große Herausforderung.

238 Kilometer, 5500 Höhenmeter, 66 Kehren – die einen jagen die Bestzeit, andere wiederum persönliche Rekorde, aber alle wollen vor allem vor 20.30 Uhr ins Ziel. Ein Finisher sein. Mit dem Trikot als Trophäe im Gepäck auf dem Weg nach Hause. Irgendwie verständlich – ein Beweis der herausragenden Leistung, Selbstüberwindung, Disziplin und die Bestätigung, ein „richtiger Radfahrer“ zu sein. Oder Radfahrerin. Denn auch diese gibt es in der Geschichte des Ötztaler mehr als genug, mit Zeiten, die so manchen Herren der Schöpfung zur Ehre gereichen würden.

Jedes der bisher 39 Marathon-Rennen war anders, speziell Petrus hatte genügend Gelegenheiten, sein gesamtes Repertoire zu präsentieren. Vom strahlenden Sonnenschein bis hin zum Sauwetter, an dem nicht einmal der Hund Gassi geführt wurde, wechselten die Verhältnisse – je nach Laune „da oben“. Fixer Bestandteil über die Jahrzehnte hinweg blieb nur die traditionelle Pasta-Party. Köstlich-dampfende Spaghetti, um die leeren Akkus aufzuladen – das hatte sich schon nach dem ersten Rennen bewährt.

Die Faszination des Ötztaler dokumentiert Rekordjagden, Enttäuschungen, wird gefüttert mit Tränen (der Freude, aber auch jenen des Zorns) und wenn Ernst Lorenzi, der Tausendsassa, im Vorwort seines Buches von den Teilnehmern als 4000 Schauspielern auf der vielleicht größten Theaterbühne der Welt, umgeben von einer einzigartigen Naturkulisse, schreibt, dann ist dem nicht viel hinzuzufügen, weil er genau damit die vielen Gesichter jedes Teilnehmers an diesem besonderen Tag quasi schonungslos natürlich auf die Bühne bringt.

Die Selbstzweifel am Start weichen der breiten Brust auf der Fahrt durch Innsbruck, der Krise am Brenner folgt die Leidenschaft beim Anstieg auf den Jaufen; bei der Abfahrt ins Passeiertal jagen einander Euphorie und Selbstüberwindung im Rekordtempo, die Anfahrt zum Timmelsjoch wird zum Wechselbad der Gefühle, Respekt dominiert, letzte Energiereserven werden angezapft, der faszinierende Kampf zwischen Kopf und Körper entlädt sich auf 2509 Metern, dem höchsten Punkt, in einem unbeschreiblichen Gefühl der Freude, die letzte Facette eines faszinierenden Rollenspiels.

Fast 90000 Athletinnen und Athleten hatten sich in den bisher 39 Rennen auf den Weg über die 238 Kilometer mit 5500 Höhenmetern gemacht. Franz Wegscheider gewann die ersten beiden Rennen, Mathias Nothegger die beiden vorerst letzten Konkurrenzen, darunter den Marathon 2019 mit der bisher schnellsten Zeit von 6:47:02 Stunden. Die Bestzeit der Damen hält die Schweizer Fünffach-Triumphatorin Laila Orenos seit dem Jahr 2016 mit 7:42:29 Stunden.

Knapp zwei Stunden mehr (8:50:25) brauchte Skisprung-Liebling Andi Goldberger bei seiner Premiere (2015) und bewegte sich dabei durch ein Wellental der Gefühle – am Brenner überholte und distanzierte er damals seinen Biathlon-Freund Christoph Sumann und mit seinem bekannten spitzbübischen Lächeln, ehe der sich dann am Jaufen revanchierte. Am Ende ging es friedlich nebeneinander ins Ziel.

Überhaupt das Miteinander – ein Geheimnis des Erfolges; der Ort, das Tal, die Menschen, Betreuer an den diversen Stationen, Helfer, Tröster, jubelnde Fans entlang der gesamten Strecke, eine Logistik der Extraklasse, damit am Tag X alles reibungslos funktioniert. Wie auch beim Pro Ötztaler, dem Husarenritt der Profis – nach dem Sieger Roman Kreuziger nur meinte: „Ein tolles Rennen, ein unglaubliches Bike-Fastival, all diese begeisterten Menschen, es war ein noch größerer Event, als ich erwartet hatte. Vielleicht komme ich wieder!“

Das sagen übrigens die meisten Teilnehmer, nachdem die ersten Wehwehchen verschwunden sind und die Erinnerung an unvergessliche Stunden die Lust auf ein neues Abenteuer entfacht. Nebst den vielen Siegern auch Sport-Promis wie Walter Röhrl, Jan Ullrich, Jutta Kleinschmidt, Benjamin Karl, Markus Prock, Jörg Ludewig, Tom Rohregger, „Goldi“ und Vinzenz Hörtnagl, sie alle tragen den Ötztaler quasi in sich. Oder die 24 einheimischen Marathon-Stammgäste wie (auszugsweise) Raimund Frischmann, Peter Schaber, Hermann Schwarz, Gerhard Bühler, Oswald Auer, die allesamt auf mindestens 20 Starts gekommen sind.

Sie sind Teil dieser beeindruckenden Geschichte, deren Ende noch nicht absehbar ist, die aber für viele Kapitel Platz bietet. Wie für jenes eines vielbeschäftigten und weitgereisten Holländers, der 1998 mit dem Radsport begonnen hatte, im Jahr 2000 erstmals startete und immer wieder zurückkehrte ins Ötztal, nach Sölden.

Wo er sich gleich mehrfach verliebte – erst in das Rennen, dann in die Labestation am Brenner (da gab es jeweils zwei Williams mit Joe Falkner) und letztlich, 2015, in Kate, eine Sölderin. Bert van Wilsem ist – stellvertretend – einer jener Finisher, für die gleich mehrere Träume wahr geworden sind. Und das Träumen im Ötztal geht weiter – allen Widrigkeiten zum Trotz, 2021 kann kommen!